Forschungsprojekte

New Keywords

Forschungsprojekt: “New Keywords: A Vocabulary of Creative and Entrepreneurial Dispositifs”

Methoden: Visuelle/Kultuelle Geographie,Ethnographische Stadtforschung, Promenadologie, Walking Methods/Spaziergangsforschung, Flaneurpraxis

Concepts Trouvés‘ im ästhetischen Kapitalismus

Die Erkenntnis der Straße ist an die Entzifferung
ihrer traumhaft hingesagten Bilder verknüpft.
(Siegfried Kracauer: Straßen in Berlin und anderswo)

»Beijing Business Lands« präsentiert 125 gefundene Konzepte (Concepts Trouvés) aus Pekings Konsum- und Werbelandschaften – englischsprachige Schlagworte von A wie „App“, B wie „Beauty“, C wie „Core Values“ bis zu Z wie „Zone“. Diese Funde wurden in Fotos festgehalten und anschließend von 50 Autor:innen in über 300 Texten erkundet. Entstanden ist ein visuelles und textuelles „Glossar der Gegenwart“,[1] inspiriert von enzyklopädischen Projekten[2] wie George Batailles Kritisches Wörterbuch (ab 1929) und Raymond Williams‘ Keywords: A Vocabulary of Culture and Society (1976). Während sich mit dem ersteren nur der Begriff „Arbeit“ überschneidet, treten im Abgleich mit Keywords über 20 Parallelen hervor: „Aesthetic“, „Art“, „City“, „Commercialism“, „Community“, „Consumer“, „Creative“, „Culture“, „Development“, „Dramatic“, „Ecology“, „Experience“, „Industry“, „Labour“, „Management“, „Media“, „Nature“, „Personality“, „Technology“, „Theory“ und „Work“.

Das Projekt arbeitet entlang zweier Phasen: Zunächst wurden globale Marketingsignale als „Wörter aus der Fremde“ (Adorno; Levin 1985) im Stadtbild fotografisch eingefangen, um sie dann Übersetzungen der chinesischen Sprach- und Zeichenwelt gegenüberzustellen. In einem zweiten Schritt haben internationale Designstudierende der Gestaltungsfakultät in Hildesheim dann die Begriffe in Miniaturtexten in eine Reflektion gebracht. So sollen diese scheinbar banalen Begriffe im ortsspezifischen (Zeichen)Kontext in ihrer Katalogisierung als verdichtete Chiffren eines Ästhetischen Kapitalismus (Böhme) sichtbar gemacht werden. Mit diesem Phänomen kann eine Form des Wirtschaftens beschrieben werden, die ästhetische, künstlerische und emotionale Welten erkundet, miteinschließt, kolonialisiert.

Die Begriffe leisten vieles: Sie eröffnen einen ambivalenten „third space“ im Sinne Homi K. Bhabhas, der eben auch durch (post-)koloniale Strategien und Taktiken der Übersetzung, Aneignung und Mimikry charakterisiert werden kann. Damit operieren die Begriffe als Agenturen einer hybriden Identitätsbildung. Darüber hinaus sind die Einschreibungen auf Gebäuden als Diskursfragmente zu lesen, die Wissen und Macht im Sinne Michel Foucaults (re-)produzieren. In Begriffen wie „Innovation“, „Development“, „Creative“ und „Solution“ treten Programme, Bedingungen und Dispositive der Kreativität (Boltanski/Chiapello 2003: Reckwitz 2012), Technologie (Hörl 2011), des Designs (Fry 2010) und des Unternehmertums (Bröckling 2007) hervor. Mögen die Begriffe einzeln alltäglich, ja vielleicht sogar banal wirken, malen sie in der gegenseitigen Bezüglichkeit ein umfängliches Bild der Verfasstheit gegenwärtiger Kultur(en).

 

Abbildung: Liste der 125 Concepts Trouvés der Ausstellung

Die textlichen Miniaturen – frei in Form und Stil – sollen diese begrifflichen „Automaten“ (Kluge/Negt) als persönlichen Resonanzraum aufschließen. So treffen Begriffe einer globalen Ökonomie auf subjektive Reflexionen und entfalten neue, auch widersprüchliche Bedeutungsräume. Die Ausstellung will dazu anregen, die Rolle solcher geläufigen Konzepte zu hinterfragen und zu entdecken, wie unsere Wahrnehmung und Sprache in öffentlichen urbanen Räumen geformt werden – und was sich in einem Einlassen auf die „unmarked linguistic aliens“ (Levin 1985: 118) in einem persönlichen Erleben, der Reflektion und Kritik offenbaren kann.

Methodik / Genese

Die Ausstellung ist das Ergebnis einer mehrfachen Versuchsanordnung, die sich in zwei Phasen unterteilt. Phase 1: Auf Einladung der Beijing Design Week wurde sich im Sommer 2024 vom Flughaften Berlin aus in Chinas Hauptstadt Peking begeben, um im Modus eines Flaneurs (Benjamin) die Stadt zu erlaufen. Aus dem für den Autor dieser Fotografien nicht oder schwer entzifferbaren Zeichensystem des öffentlichen Stadtraums voller Einkaufsmeilen, Restaurants, Hotels, Malls und Ladengeschäfte traten dann wiederholt vor der Kulisse des (mindestens semiologisch) „Fremden“ Inseln des Verständnisses englischsprachiger Begriffe wie als ein Meta-Text hervor. Die Sammlung ist das Ergebnis der Aufmerksamkeiten eines „westlichen Blicks“ (Said; Mulvey; Fanon), der zu gleichen Anteilen als zugewandt, interessiert, aber auch naiv und im touristischen Modus ignorant charakterisiert werden könnte. Dieses wiederholte Bemerken wurde zum Anlass einer „Stadtwahrnehmungsaufgabe“ (Düllo 2011: 279) genommen um eigenbeauftragt die Stadt und die divergenten Zeichensysteme in eine „Lesbarkeit“ (280) zu bringen. Im Sinne der Methodik der Visual Studies, Visual Geography und Promenadologie (Lucius Burckhardt) der Cultural Studies wurden die Entdeckungen fotografisch festgehalten und durch den gewählten Ausschnitt im Modus: „visuelle Kognition vor intellektueller Interpretation“ (Stierli zit. nach: Düllo 2011: 273) aus ihrer lokalen Indexikalität gerissen.

Das Ergebnis stellten hunderte gefundene Konzepte (Concepts Trouvés) dar, die im nächsten Schritt nach gemeinsamen Themen befragt, durchmustert und inventarisiert wurden. Mehr oder weniger erwartbare Fundstücke eines Durchstreifens konsumkultureller und handelspolitischer Sphären einer global ausgerichteten Metropole ließen sich gleichzeitig als rätselhafte und verdichtete Chiffren deuten, die als Symptome und Spuren eingangs erwähnter gesellschaftlicher, kultureller und wirtschaftlicher Bedingungen gelesen werden können. Die Auswahl von Zufallsfunden einer Kontingenz der aufgesuchten Orte und Emergenz der erlaufenen Routen wiesen thematische und topologische Gemeinsamkeiten auf. Das Ergebnis dieser Katalogisierung stellen nun die 125 Fotografien der Ausstellung dar.

Learning from Beijing

Das Projekt Learning from Las Vegas (Venturi et al. 2000) hat entlang seines Gegenstands im Jahr 1972 die weitgehenden Bedeutungen urbaner Zeichenräume aufzeigen können: Zeichen leisten hier vieles und übernehmen weitgehende Funktionen der Orientierung, Persuasion, Stimmungsvermittlung, Identitätskonstruktion und Produktion kultureller Bedeutung. Ähnlich wie in den Exponaten der Ausstellung, enden die Zeichen auch nicht an der Grenze des Textes: „Signs in Las Vegas use mixed media – words, pictures, and sculpture – to persuade and inform.” (Venturi et al. 2000: 52) Die „iconography of urban sprawl“ (Einbandstext) umfasst hierbei sowohl Zeichen, Schrift, Symbole, Bilder als auch Gebäude – die Grenzen verschwimmen. Stadt wird so zur „Collage“ (Rowe/Koetter: 1978) und „als Kommunikation, als Medium“ (Düllo 269) begriffen. Dieser urbane „Aufstand der Zeichen“ (Baudrillard 1978) tobt auch in Beijing.

Doch mit was für Zeichenkonglomeraten hat man es hier zu tun? Die Ausstellung möchte ausdrücklich den „Verheißungs- und auch Erkenntnis- und Lerncharakter der Straße“ (Düllo 2011: 150) ernstnehmen; dies jedoch mit einer Volte. Sicherlich gäbe es viel entlang der Begriffe über die lokalen Bedingungen in Peking und Mainland China zu lernen. Die Ausstellung will dies in Anerkennung des fehlenden Ortswissens gleichwohl ausdrücklich (noch) nicht tun.[3] Vielmehr verfolgt sie die Idee, diese global wirksamen Konzepte – viele der Begriffe findet man in allen Metropolen der Welt als „austauschbare Terme auf dem Schachbrett der Stadt“ (Baudrillard 1978: 21) – aus ihrem Kontext zu reißen und sie als Anlass einer ergebnisoffenen Eigenreflektion back home zu nehmen. Folgt man kurz der dialektischen Unterscheidung eigen-fremd und zieht die Grenzen in der schwer auszuhaltenden Differenz westlich-östlich, so könnte man das Vorgehen zumindest semiologisch als einen Wiedereintritt (re-entry) der Konzepte fassen.

Was bringt diese indirekte Versuchsanordnung eines Learning from Beijing mit sich? Die Ausstellung hofft, mit den 125 Begriffen diskursive Verdichtungen aufgesammelt zu haben, die Rückschlüsse auf den Stand der lokalen und globalen Spielarten gegenwärtigen Spätkapitalismus zulassen. Durch die Brillen soziologischer und kulturwissenschaftlicher Theorie und Kritik werden die gefundenen Konzepte zu Fragmenten geteilter Diskurse und Materialisierungen kreativer, (Reckwitz), emotional-affektiver (Deleuze, Illouz) und unternehmerischer Dispositive (Foucault, Chiapello/Boltanski, Bröckling). Kurzum: Dispositive eines globalen, urbanen, großstädtischen Ästhetischen Kapitalismus. (Böhme).

Die Konzepte qualifizieren sich zu „strategisch platzierte[n] Fremdwörter[n]” (Levin 1985: 115), gleichwohl nicht von Akteuren eingesetzt, sondern wirksam als Effekte von Diskursstrategien kreativer und unternehmerischer Dispositive. Im Sinne einer Territorialisierung nehmen sie Platz ein und leisten eine „Besetzung des Raumes durch den Text“ (Augé 2012: 101).

Texturen des Übersetzens

Um schließlich dem Vorhaben eines Wiedereintritts der gefundenen Konzepte in sogenannte „westliche“ Kontexte des globalen Nordens nachzukommen, haben sich (internationale) Designstudierende der Gestaltungsfakultät in – als mehrfach Betroffene, Subjekte und Akteure der angesprochenen kreativen, ästhetischen, unternehmerischen, managerialen und strategischen Dispositive – den Begriffen in verschiedenen Herangehensweisen angenommen. Entlang der Methoden des Free Writing, der Memory Works, der Alltagsethnografie und der Theorietextur (vgl. Düllo/Haensch 2013) wurde sich auf das (gerne auch auf ein tiefer gehängtes, schwaches) Punctum (Barthes) der Bilder eingelassen und diese Energie des Ereignisses einer subjektiven Erschütterung und Betroffenheit in textlichen Miniaturen artikuliert. So sind über 300 Texte entstanden, von denen eine Auswahl gemeinsam mit den Bildern in der Ausstellung gezeigt wird. Resultat eines solchen „incorporating the Fremdwort in […] thinking and in […] own technique” (Levin 1985: 115) sind kleine Geschichten, manchmal alltäglich, außergewöhnlich oder rätselhaft. „Beijing Business Lands“ stellt 125 Concepts Trouvés vor, die als globale Marketingsignale einer ästhetisch-kreativ-unternehmerischen Kultur fotografisch eingefangen und in Textminiaturen bearbeitet wurden. Indem sie sowohl chinesische Übersetzungen als auch subjektive Reflexionen internationaler Designstudierender einbeziehen, entsteht ein vielseitiges „Glossar der Gegenwart“, das den Slogans und Begriffen des spätkapitalistischen Alltags nachspürt. In diesem Spannungsfeld aus Leerformeln, Konsumverheißungen und kreativem Mehrwert offenbaren sich Chiffren einer globalen, großstädtischen Wirtschafts- und Kulturpraxis. Die Ausstellung macht damit sichtbar, wie scheinbar banale Schlagwörter Kontexte und Diskurse verknüpfen – und welche Rollen sie dabei für Identität, Kritik und ästhetisches Erleben spielen.

Text: Konstantin Haensch

Bibliografie 

Augé, Marc. 2012. Nicht-Orte. 3. Aufl. München: Beck.

Bataille, Georges. 2005. Kritisches Wörterbuch. herausgegeben von R. M. Kiesow und H. Schmidgen. Berlin: Merve.

Baudrillard, Jean. 1978. Kool Killer oder der Aufstand der Zeichen. Berlin: Merve.

Böhme, Gernot. 2016. Ästhetischer Kapitalismus. Berlin: Suhrkamp.

Boltanski, Luc, und Eve Chiapello. 2003. Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz: UVK.

Bröckling, Ulrich. 2007. Das unternehmerische Selbst: Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Bröckling, Ulrich, Susanne Krasmann, und Thomas Lemke. 2004. Glossar der Gegenwart. Berlin: Suhrkamp.

—, Hrsg. 2024. Glossar der Gegenwart 2.0. Berlin: Suhrkamp.

Deleuze, Gilles. 2020. Unterhandlungen: 1972 – 1990. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Diderot, Denis, und Jean Le Rond d’Alembert. 2013. Diderots Enzyklopädie: mit Kupferstichen aus den Tafelbänden. Herausgegeben von A. Selg und R. Wieland. Berlin: AB – Die Andere Bibliothek.

Düllo, Thomas. 2011. Kultur als Transformation: Eine Kulturwissenschaft des Performativen und des Crossover. Bielefeld: transcript.

Fry, Tony. 2010. Design as Politics. London, England: Berg Publishers.

Horkheimer, Max, und Theodor W. Adorno. 2010. Dialektik der Aufklärung: philosophische Fragmente. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch.

Hörl, Erich. 2011. Die technologische Bedingung: Beiträge zur Beschreibung der technischen Welt. Berlin: Suhrkamp.

Levin, Thomas Y. 1985. „Nationalities of Language: Adorno’s Fremdwörter An Introduction to ‚On the Question: What Is German?‘“ New German Critique (36): 111–19.

Reckwitz, Andreas. 2012. Die Erfindung der Kreativität: Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung. Berlin: Suhrkamp.

Venturi, Robert, Denise Scott Brown, und Steven Izenour. 2000. Learning from Las Vegas: The Forgotten Symbolism of Architectural Form. Cambridge, Mass.: The MIT Press.

Williams, Raymond. 2011. Keywords: A Vocabulary of Culture and Society. New York: Oxford Univ.

[1] Vgl. die beiden bei Suhrkamp von Ulrich Bröckling, Susanne Krasmann und Thomas Lemke herausgegebenen Projekte: Glossar der Gegenwart (2004) und Glossar der Gegenwart 2.0 (2024). Es lassen sich auch konzeptuelle Überschneidungen ausmachen: „Branding“, „Community“, „Cool“, „Erlebnis“, „Kreativität“, „Künstliche Intelligenz“, „Nachhaltigkeit“, „Ökologie“, „Projekt“, „[…] Value“.

[2] Als frühes Vorhaben gilt die Encyclopédie (1751–1772) von Diderot und d’Alembert

[3] Vielleicht ließe sich diese Arbeit umfänglicher in der Zukunft in einer Kooperation mit Autor:innen und Wissenschaftler:innen vor Ort erledigen.

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